Corte Sant'Alda, Venetien
Foto©CorteSantAlda
Vom Industriellen-Töchterchen zur Weinbäuerin
1976 hatte ihre Familie ein altes Landgut im nahen Val di Mezzane als Wochenendsitz gekauft. Marinella begann nebenbei, sich dort um den Garten zu kümmern, vertiefte sich immer weiter in die Arbeit mit der Erde und den Pflanzen – und erkannte darin schließlich ihre eigentliche Berufung. 1983 zog sie – im Alter von 25 Jahren – mit Sack und Pack dorthin und brachte das Gut samt der dazugehörigen Rebflächen auf Vordermann. Ab 1986 war sie dann ganz offiziell – allen Widerständen und dem Argwohn der Menschen im Dorf zum Trotz – Bäuerin und Herrin über ihr eigenes Reich. Und sie machte Wein – ohne Ausbildung und schon bald auch ganz ohne Mann, als alleinerziehende Mutter. Unerhört! Ihr Weingut benannte sie kurzerhand nach ihrer kleinen Tochter Alda: Corte Sant’Alda. Sie setzte sich autodidaktisch mit dem Weinbau auseinander, krempelte peu à peu die Weinberge nach den neuesten Erkenntnissen um und feilte am Ausbau ihrer Weine. Jahr für Jahr. Zunächst kaum beachtet, dann noch eher belächelt – schon bald aber mit zunehmendem Erfolg. 1995 gelang ihr schließlich der nationale Durchbruch und Corte Sant’Alda wurde zu einer festen Größe des italienischen Weins. So ganz zufrieden mit sich und der Welt war Marinella Camerani jedoch noch nicht. Denn obwohl ihr Erfolg den Methoden des konventionellen Weinbaus recht zu geben schien, störte sie sich mehr und mehr an diesen.



La Mamma di Amarone
„La Mamma di Amarone“ – so ihr heutiger ehrenvoller Beiname. Das hätte sich Marinella Camerani zu Beginn ihres Lebens als Winzerin wohl nicht träumen lassen. Damals musste sie dafür kämpfen, in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft und der von Männern dominierten Weinbranche als solche überhaupt wahr–, geschweige denn ernst genommen zu werden. Dabei war es gerade die mangelnde Gleichberechtigung in der eigenen Familie, die sie zum Weinbau brachte. Im Unternehmen ihres Vaters musste sie als junge Frau zusehen, wie die Männer der Familie dort die verantwortungsvollen Posten besetzten, während ihr nur eine Assistenzstelle in der Verwaltung zuteilwerden sollte. Damit wollte sich Marinella nicht abfinden. Und so suchte sie nach einem Weg, sich anderweitig selbst zu verwirklichen.
Zur Galionsfigur des progressiven Weinbaus
2002 begegnete Marinella Camerani schließlich Nicolas Joly, dem charismatischen Großmeister des biologisch-dynamischen Weinbaus und des neuen Terroir-Denkens aus Frankreich – eine Art Erweckungserlebnis, das ihr einen völlig neuen Blick auf ihr Tun und die Zusammenhänge zwischen Reben und Terroir eröffnete. So folgte der zweite große Befreiungsschlag in ihrem Leben. Diesmal ging es nicht um die Überwindung des Patriarchats, sondern um die Emanzipation von Agrochemie und den Dogmen des damaligen Weinbaus. In dieser neu gewonnenen Freiheit entfalteten sich nicht nur ihre Weine, sondern auch sie selbst mehr und mehr zur großen Lichtgestalt des Valpolicella – zur Terroir- und Weinbau-Expertin par excellence und zur weithin anerkannten Meisterin eines modernen Amarone-Stils. Über die Jahre hat sie als eine der Galionsfiguren des progressiven Weinbaus zahllose andere Winzer*innen inspiriert, viele junge Talente um sich versammelt und – neben Corte Sant’Alda – noch weitere Weinprojekte zur Welt gebracht. 2024 kürte sie sogar der eher konservative Weinführer Gambero Rosso zur „Winzerin des Jahres“. Das hätte sich das Weinpatriarchat vor knapp 40 Jahren wohl kaum träumen lassen …